Umzingelt von Algorithmen

Vom Roboterjournalismus bis zur Upselling-Empfehlung
Künstliche Intelligenz kommt in der Verlagsbranche an

„Irgendwas mit Robotern.“ So würden vermutlich viele Menschen den Begriff „Künstliche Intelligenz“ beschreiben. „KI“ soll das Leben und Arbeiten erleichtern und ist schon in vielen Bereichen angekommen – zum Beispiel bei der Gesichtserkennung, Schach- und Computerspielen, Navigationssystemen, autonomen Fahren und nicht zuletzt als aktuell viel diskutierte Entwicklung des Chatbots ChatGPT des US-amerikanischen Unternehmens OpenAI. Auch im Verlagswesen und in den Medienhäusern ist Künstliche Intelligenz bereits im Einsatz – und wird immer weiter ausgebaut.

Auch wenn sich „Künstliche Intelligenz“ nach moderner, digitaler Welt anhört – ganz so neu ist die Idee nicht. Bereits 1965 hat Herbert A. Simon, Nobelpreisträger und Pionier auf dem Gebiet der KI, gesagt: „Machines will be capable, within twenty years, of doing any work a man can do.“ („Maschinen werden innerhalb 20 Jahren in der Lage sein, jede Arbeit zu verrichten, die bislang Menschen erledigen.“) Damit lag er ziemlich daneben.

Ernüchterung in den 80ern: Zu kleine Speicher, wenig Trainingsdaten

Denn tatsächlich befand sich die KI-Entwicklung 20 Jahre später an einem Tiefpunkt: Modelle und Theorien wurden zwar weiterentwickelt und erforscht, aber es haperte an der notwendigen Computer- und Rechenkapazität. Die verfügbaren Datenspeicher waren viel zu klein, und Trainingsdaten, mit denen die Modelle trainiert werden mussten, waren nicht ausreichend vorhanden.

Seither hat sich einiges in der digitalen Welt getan, von Internet über Social Media bis hin zu Robotik. Auch die Entwicklung bei Künstlicher Intelligenz hat Fahrt aufgenommen – und es spricht vor allem im Jahr 2023 vieles dafür, dass es erfolgreich weitergeht.

 

Vier Gründe sind dabei entscheidend:

  • Es gibt einen globalen Investitionshype, der von den USA und China angeführt wird. Der weltweite Umsatz mit Unternehmensanwendungen im Bereich der KI wird vom Online-Statistikportal Statista derzeit auf knapp acht Milliarden US-Dollar geschätzt und soll bis zum Jahr 2025 auf über 31 Milliarden US-Dollar steigen. Zum Vergleich: Der Umsatz 2016 betrug 350 Millionen US-Dollar. Viele Staaten investieren in Forschung und Entwicklung und schaffen die Grundlage für Unternehmensgründungen und eine innovative Start-up-Kultur.
  • Die Speicher- und Rechnerkapazitäten haben sich fast exponentiell entwickelt. Jedes Smartphone hat heute millionenfach mehr Speicher als der Bordcomputer der Apollo-11-Mission – und dieser hat vor 50 Jahren immerhin eine bemannte Crew zum Mond und wieder zurückgebracht.
  • Die Verfügbarkeit von Daten ist gewährleistet. Heute wird alles und jeder gemessen oder getrackt. Die Verknüpfung unterschiedlichster Systeme im Internet der Dinge ist ein nicht versiegender Datenquell. Peter Sondergaard, ehemaliger Vice President beim internationalen Analysten für IT-Entwicklungen Gartner, ist der Meinung: „Information is the oil of the 21st century.“ („Informationen sind das Öl des 21. Jahrhunderts.“)
    Einige Beispiele, die verdeutlichen, was in 60 Sekunden an digitalen Informationen anfällt: 970.000 Facebook-Logins, 266.000 Stunden Streams bei Netflix, 38 Millionen WhatsApp-Nachrichten und 860.000 US-Dollar Online-Umsatz.
  • Mittlerweile gibt es viele Open-Source-Anwendungen und kostenlose Tools. Die Einstiegsschwelle für Entwickler ist durch die kostenlose Verfügbarkeit solcher Werkzeuge sehr niedrig, mit Python oder R gibt es zudem eine breite Community an Programmierern und Entwicklern. Auf Plattformen wie Github oder Kaggle.com werden öffentliche Wettbewerbe ausgeschrieben, um Programmcodes zu optimieren. Oft nehmen mehrere hundert Teams an einem solchen Projekt teil. Bis zu 100.000 US-Dollar gibt es für den Gewinner.


Nun ist KI aber nicht gleich KI. Es gibt unterschiedliche Algorithmen und verschiedene Anwendungsgebiete – auch in der Medienbranche:
 

1) Robotics und Robotic Process Automatisation (RPA)

Robotic Process Automatisation (RPA) bezeichnet die Automatisierung von Prozessen, bei der manuelle, fehleranfällige Abläufe mithilfe von technologischen Möglichkeiten digitalisiert werden. Damit soll die Qualität verbessert sowie Zeit und Kosten gespart werden. Roboter erlernen die Prozesse und Abläufe und führen sie aus. Robotergestützte Prozessautomatisierung gilt als Schlüssel bei der Digitalisierungsstrategie in Unternehmen und ist der Bereich der KI mit den meisten Anwendungen – allerdings außerhalb der Medienbranche.

Für Medienhäuser kann RPA jedoch bei der Zustellung von gedruckten Presseprodukten interessant sein. Für die Logistik, die vor immer größere Herausforderungen gestellt wird – unter anderem dadurch, dass Zeitungszusteller immer schwieriger zu finden sind – können teilautomatisierte Prozesse eine Lösung sein. Auch in ländlichen Gebieten oder bei weit verstreuten Zustellorten wäre ihr Einsatz sinnvoll.

 

2) Natural Image Processing

Mithilfe von Algorithmen können Gesichter und Objekte auf digitalen Bildern erkannt und zugeordnet werden. Für die Medienbranche kann dies hilfreich sein: Werden Inhalte erstellt, können Bilder und Videos mit maschineller Bildverarbeitung automatisch verschlagwortet werden – der Algorithmus erkennt nämlich, was oder wer auf dem Bild abgebildet ist. So werden große Datenmengen einfacher nutzbar und Routineprozesse automatisiert.

 

3) Expert-Systeme und Empfehlungsalgorithmen

Durch KI können in unstrukturierten Daten auf verschiedene Arten Strukturen, so genannte Patterns, ermittelt und anschließend auf Gemeinsamkeiten überprüft werden (Cluster). Die Vorteile für die Verlagsbranche: Solche Algorithmen helfen dabei, die Mediennutzer besser zu verstehen. So kann das Kund*innenverhalten valide vorhergesagt und Angebote für die User optimiert werden. Das bietet die Chance, das gesamte Customer-Relationship-Management (CRM) zu optimieren.

Allerdings kann gerade für Presseverlage dadurch ein Dilemma entstehen. Wenn die Algorithmen nur noch das optimieren, was letztendlich aus der Nachfrage der Rezipienten resultiert, besteht die Gefahr, dass die Themenvielfalt eingeschränkt wird und damit die öffentliche Aufgabe des Verlages und der journalistische Grundsatz der Presseverlage geschwächt werden. Man landet schnell in der Debatte um Echokammern und Filterblasen und damit in der Diskussion um die Qualität im Journalismus.

Tatsächlich wird vor allem in Online-Redaktionen zunehmend darauf geachtet, worauf geklickt wird und es werden schließlich Inhalte publiziert, die Reichweite schaffen, statt Inhalte nach journalistischen Maßstäben zu beurteilen. „Die Online-Redaktion weiß zu jedem Zeitpunkt, wie viele Nutzer den Artikel wie lange gelesen haben, von welchen anderen Online- oder Social-Media-Kanälen die Rezipienten gekommen sind und wohin sie abwandern“, sagt Prof. Christof Seeger von der Hochschule der Medien in Stuttgart (HdM). „Die Überlegung, die Menschen dann möglichst lange, durch die geeignete Auswahl von ,vermarktungsfähigem‘ Content auf den eigenen Seiten zu halten, ist einerseits nachvollziehbar – aber weder Clickbaiting noch Katzenvideos oder Polizeireports sind am Ende erstrebenswert.“

 

4) Natural Language Processing (NLP)

Die Maschinelle Sprachverarbeitung ist der Bereich, der die Verlagsbranche neben den Empfehlungsalgorithmen am meisten beeinflussen wird. Was steckt dahinter? Algorithmen leisten kreative Arbeit, schreiben zum Beispiel Texte oder Gedichte. Aktuell sorgt die Entwicklung des Chatbots ChatGPT für Aufregung im Netz. In der Verlagsbranche kommt vor allem der Roboterjournalismus zum Einsatz. Stuttgarter Zeitung/Stuttgarter Nachrichten beispielsweise setzen einen Algorithmus ein, der auf Sensordaten basierend einen automatisierten Feinstaubbericht für die Stadt erstellt. Auch in der Sportberichterstattung werden diese Algorithmen zunehmend verwendet, vor allem bei der Information zu Ergebnissen von Matches oder wer bei einer Fußballpartie die Tore geschossen hat. Die US-Nachrichtenagentur Associated Press produziert bereits über 10.000 Texte pro Baseballsaison.

 

Positiv und offen gegenüber KI sein – aber auch kritisch!

In der Verlagsbranche wird Künstliche Intelligenz gerade erst entdeckt, jedoch auch immer weiterentwickelt und sie wird zur Zukunft in den Verlagen gehören. Algorithmen sollte man positiv und offen gegenüberstehen, rät Seeger – allerdings nicht unkritisch. Denn es gibt nicht nur die großartigen technologischen Möglichkeiten, sondern insbesondere in der Verlagsbranche und journalistischen Arbeit auch eine ethische und gesellschaftliche Verantwortung.

Medienmacher müssen mit der mediatisierten Umwelt sensibel umgehen, denn für viele Menschen ist die veröffentlichte Meinung gleichbedeutend mit der öffentlichen Meinung. „Wir müssen uns immer bewusst sein, dass wir den größten Teil unserer Wahrnehmung der Welt durch Medienberichte erhalten“, so Seeger. „Das sollte nie ausschließlich durch selbstlernende Algorithmen geschehen, sondern durch die kritische Reflexion und Einordnung von echten Menschen.“

Februar 2023